top of page

:Fragen an den systemischen Sexualtherapeuten Patrick Hess​​

24. Februar 2024
​​
​​

Frage 1:

 

Wie findet ein (junger) Mensch oder jemand, der*die sich vielleicht noch nie viel damit beschäftigt hat, bei all den „Möglichkeiten“ den eigenen Weg, die eigene Sexualität und sexuelle Orientierung?

 

„In meiner langjährigen Erfahrung als Therapeut zeigt sich, dass es unterstützend ist, sich selbst Informationen zu verschaffen. Je vielfältiger diese sind, desto besser kann herausgefunden werden, wo sich der junge Mensch wiederfinden kann und möchte.

 

Besonders Social Media, Infogruppen, Podcasts, YouTube und andere Plattformen sind eine große Hilfe. Gibt es dort z.B. Personen, die ähnliche Erfahrungen und Situationen erleben bzw. erlebt haben? Kann ich in den Austausch mit diesen Personen gehen, die selbst diesen Weg gegangen sind? Diese Aktivität stärkt die Selbstwirksamkeit und hilft dann wiederum Ängste zu nehmen. Außerdem besteht die Möglichkeit, andere Sichtweisen einzunehmen, für sich richtige Labels zu finden, diese auszuprobieren und zu schauen, ob man sich mit diesen wohlfühlt.

 

Im Prozess ist es wichtig zu beachten, dass sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentitäten oft nicht binär sind und sich diese im Laufe der Zeit ändern können. Dies ist völlig normal, und das Wissen darüber kann zusätzlich Hilfe geben und Orientierung schaffen. In diesen Prozessen stärke ich meine Klient*innen und vermittle, dass man geduldig mit sich selbst sein sollte und sich Raum gibt, Wachstum zuzulassen.

 

Hervorzuheben ist es, sich dabei Zeit zu nehmen über Gefühle und Attraktionen nachzudenken, sich selbst zu fragen, was einen anzieht und welche Emotionen dabei entstehen. Aus meiner Erfahrung hilft es auch, nahestehende Menschen miteinzubeziehen und um Unterstützung zu bitten. Dieser Austausch von Gedanken und Ideen wirkt in diesem Prozess entlastend.“

 

Frage 2:

 

Wann sollten Jugendliche hellhörig werden und sich selbst Hilfe von außerhalb holen (in Form einer Therapie o.Ä.)? Was sind „normale“ Ängste/Probleme bzgl. Geschlecht und Zugehörigkeit, wo wird es pathologisch/problematisch?

 

„Bei meiner intensiven Arbeit mache ich Jugendlichen immer klar, dass sich mit sich selbst und der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen sehr herausfordernd ist, besonders in einer sehr heteronormativen, cisnormativen und binär* geprägten Gesellschaft. Diese sogenannten Normen beeinflussen stark unsere Entwicklung.

 

Kommen dann noch Fragen bezüglich der Geschlechteridentität und der Sexualität dazu, sind diese oft mit Ängsten verbunden. Im Therapieprozess ist es wichtig zu schauen, ob der Leidensdruck zu groß wird.

 

Wird schon die Handlungsfähigkeit im Alltag negativ beeinflusst? Kommt es zu Problemen in der Schule, im Studium oder in der Familie? Wird Mobbing und Diskriminierung von anderen Menschen erfahren? Erleben junge Menschen im Alltag eine Genderdysphorie oder Körperdysphorie (fühle mich dem mir zugeordneten Geschlecht oder Körper nicht zugehörig?), die weitergehende psychische Störungen hervorrufen können, sollte sich Hilfe bei spezialisierten Anlaufstellen oder Therapeut:innen gesucht werden.“

 

*Erklärungen/Ergänzungen: Heteronormativität ist eine Reihe von Praktiken und Institutionen, die Heterosexualität als die einzige „natürliche“ und legitime sexuelle Orientierung legitimieren. Cisnormativität ist die Annahme, dass Menschen Cisgender sind – also welches Geschlecht ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde – und dass dies für immer ihre einzig legitime und akzeptable Geschlechtsidentität ist. Das Geschlechterbinärsystem ist das System, das die Einhaltung zweier Geschlechter vorschreibt und überwacht.

 

Frage 3:

 

Was sind die Themen, mit denen sich ein auf queere Personen spezialisierter Sexualtherapeut beschäftigt?

 

“Als queerer Sexualtherapeut ist es wichtig, Normen zu hinterfragen, die unsere Sexualität beeinflussen. Es geht um die Dekonstruktion dieser, um neue Wege und Möglichkeiten aufzuzeigen, die mit der eigenen Sexualität und sexuellen Orientierung übereinstimmen, und verborgene Potenziale zu fördern.

 

In der Arbeit ergeben sich spezifische Diskurse, die sich besonders auf Fragen der Geschlechtsidentität, des Geschlechtsausdrucks und der Sexualität beziehen, z.B. wenn sich ein junger Mensch im Ace-Spektrum (Spektrum der asexuellen Identitäten) befindet und sich in der hypersexuellen Gesellschaft zurechtfinden muss und dabei noch seine Genderidentität (welcher Geschlechtsidentität unabhängig von der körperlichen) herausfinden muss. Diesen wird in der Therapie besonderer Raum gegeben, frei von den normativen Vorstellungen der Gesellschaft.

 

Im therapeutischen Setting werden diese Normen hinterfragt, und es wird erarbeitet, wie diese unsere Lebensweise beeinflussen. Der Blick von "wie muss ich sein" zu "wie möchte ich sein" wird gestärkt. Was hilft mir, eine Sexualität zu leben, die mich als Mensch erfüllt, und wie könnte diese aussehen? Es ist wichtig zu betonen, dass es keinen festen Zeitrahmen für diesen Prozess gibt, und es ist in Ordnung, unsicher zu sein. Jeder geht seinen eigenen Weg, und es ist wichtig, authentisch zu sein und sich selbst zu respektieren.“

 

Frage 4:

 

Was sind häufige Ängste/Probleme/Konflikte, die queere Personen in Bezug auf ihre Sexualität (u./od. Geschlechtsidentität) erleben, und wie kann die Sexualtherapie ihnen dabei helfen?

 

„Oft haben Menschen das Gefühl, falsch zu sein, und dass ihr Leben nicht richtig ist. Diese geminderte Selbstakzeptanz kann Schwierigkeiten hervorrufen, besonders wenn sie von der binären Sichtweise, von gesellschaftlichen Normen oder Stereotypen beeinflusst werden.

 

Der Fokus liegt auf dem Spektrum dazwischen. Dieses zu erarbeiten, sich frei zu machen von den Normen, hilft, den Druck zu nehmen, um eine erfüllte Sexualität zu erleben. Letztendlich ist man nicht selbst das Problem, sondern der Umgang der Gesellschaft, die nicht außerhalb dieser Norm denkt. Wichtige Punkte sind hier die Stigmatisierung und Diskriminierungserfahrungen, die erlebt werden, was zu Stress und psychischen Belastungen führen kann.“

 

Frage 5:

 

Wie stehen Queerness und psych. Gesundheit in Zusammenhang? (z.B. bzgl. Minority Stress)

 

„Erfahrungsgemäß haben Menschen, die sich der LGBTQIA+ Community zugehörig fühlen, oft Stigmatisierung, Diskriminierung, Vorurteile und das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit erlebt. Diese können zu negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit führen und die Anfälligkeit für psychische Belastungen erhöhen.

 

Zurückzuführen ist dies auf eine fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft. Die dadurch entstandenen Stressoren zu bewältigen, um das eigene Wohlbefinden zu stärken, ist ein wichtiger Punkt, der nicht vergessen werden sollte.“

* * *
​​
​​

Kurzvita Patrick Hess (er/ihn)

 

Systemischer Sexualtherapeut (DGfS) und Paartherapeut mit der Spezialisierung auf LGBTQIA+;

Staatl. anerk. Ergotherapeut mit Spezialisierung auf Neuropsycholgie, Psychosomatik & Psychiatrie;

Heilpraktiker beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie;

Zertifizierter NLP-Coach (Neuro-Linguistische Programmierung);

Zertifizierter Traumatherapeut (Universitätsklinikum Ulm);

LGBTQIA+ Communityarbeit;

Host des queeren Podcasts „Stadt.Land.Schwul“

bottom of page