:Interview mit Joseena John von ASZ
von Jessica Dornig, 31. August 2024
Für unser Leitthema des Monats „Psychische Gesundheit im Arbeitsleben“ haben wir uns mit Joseena John unterhalten. Frau John ist seit 15 Jahren im Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) tätig mit Berufserfahrung innerhalb eines Konzerns sowie in beratender Tätigkeit bei einem Dienstleister für Arbeitssicherheit, Arbeitsmedizin und BGM.
Ziel war es, ein besseres Verständnis zu bekommen, wie psychische Gesundheit am Arbeitsplatz im Rahmen des BGM gefördert werden kann.
Frage 1: Wie hat sich das BGM in den letzten Jahren entwickelt? Welche Trends sehen Sie?
Vor knapp 15 Jahren beschränkte sich das BGM noch hauptsächlich auf klassische Gesundheitsangebote wie Bewegungskurse, Rückenkurse, Ernährungsvorträge und Workshops, ergänzt durch die gesetzlich vorgegebene Betriebsmedizin und Arbeitssicherheit. Heute hat sich das Bild grundlegend geändert: Es geht nicht mehr nur um Einzelaktionen, sondern um eine ganzheitliche, strategische Herangehensweise. Das macht es für Unternehmen komplexer, bietet aber auch große Chancen.
Außerdem wird heutzutage sowohl die Verhältnis- als auch die Verhaltensprävention berücksichtigt. Das bedeutet, einerseits die Arbeitsbedingungen zu verbessern und Belastungen zu reduzieren, andererseits die Mitarbeitenden in ihrer Gesundheitskompetenz zu schulen, damit sie besser mit nicht veränderbaren Belastungen umgehen können, die mit ihrer jeweiligen Tätigkeit einhergehen. Vor 15 Jahren wurde dieser Ansatz noch deutlich einseitiger betrachtet.
Frage 2: Inwiefern ist BGM eine Chance für Arbeitgeber?
Viele Unternehmen stehen heute vor Herausforderungen wie Fachkräftemangel, hoher Fluktuation und umfangreichen Transformationsprozessen. Diese Themen lassen sich durch ein gutes BGM teilweise auffangen. Mitarbeitende und Fachkräfte wünschen sich einen Arbeitsplatz, an dem sie und ihre Bedürfnisse wahrgenommen werden, Belastungen im Blick bleiben und sie aktiv etwas bewegen können. Das sind genau die Ziele, die auch das BGM verfolgt. Einige Unternehmen erkennen bereits das Potenzial von BGM, aber viele haben das noch nicht vollständig realisiert. Wenn BGM richtig umgesetzt wird, kann es viel mehr leisten, als nur als bloßes Aushängeschild für Gesundheit zu dienen. Es schafft tiefgreifende Mehrwerte, selbst wenn in den umgesetzten Maßnahmen das Thema 'Gesundheit' gar nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, z.B. wenn es um die Optimierung von Prozessen oder die Weiterentwicklung der Führungskultur geht.
Frage 3: Welche Rolle spielt die psychische Gesundheit im BGM?
Aus meiner Sicht eine ganz Wesentliche. Wenn man sich das Krankheitsgeschehen in Deutschland ansieht, hat ja auch hier eine Veränderung stattgefunden. Psychische Erkrankungen sind derzeit die dritthäufigsten Diagnosen, Tendenz steigend. Das Thema ist also vorhanden und muss ernst genommen werden. Hier hadern Unternehmen allerdings noch, Antworten zu generieren. Einerseits ist schon ein Bewusstsein vorhanden – über das Betriebliche Eingliederungsmanagement wird zum Beispiel bekannt, dass es Fälle psychischer Belastung im Unternehmen gibt. Es bleibt aber gleichzeitig die Frage offen, wie man präventiv tätig werden kann.
Frage 4: Wie lässt sich die Frage der Prävention denn beantworten?
Von Gesetzes wegen gibt es ja die Vorgabe Gefährdungsbeurteilungen für psychische Belastungen durchzuführen. Hier werden Belastungen und Beanspruchungen im Alltag der einzelnen Personen betrachtet. Dabei geht es weniger um den subjektiven psychischen Zustand als um die Einflussfaktoren am Arbeitsplatz. Wir betrachten in einer Online-Mitarbeiterbefragung in einem Querschnitt verschiedener Tätigkeitsbereiche, wie es um Aspekte wie beispielsweise Informationsfluss, Qualität der Führung, Qualität der Zusammenarbeit, Arbeitsorganisationen, Arbeitsumgebung bestellt ist. Über dieses Mittel kann man präventiv wunderbar einsteigen, weil hier deutlich wird, wo die Mitarbeitenden Themen kritisch sehen.
Danach geht es weiter in die Tiefe. Wir betrachten, ob aus diesen Themen auch eine Beanspruchung resultiert und ob diese veränderbar ist, oder ein unveränderlicher Umstand der Arbeit. In einem Unternehmen mit gewerblichen Mitarbeitenden werden beispielsweise mit Sicherheit die Themen Lautstärke oder Schichtarbeit rot aufleuchten. Hier muss man zusätzlich im Dialog mit den Mitarbeitenden eruieren: inwiefern beeinträchtigt diese Belastung? Wenn ja, kann hier noch etwas optimiert werden? Wenn nein, wie kann man die Mitarbeitenden in ihrer Ressource stärken, um mit diesen nicht veränderbaren Belastungen gut umzugehen? Unsere Erfahrung zeigt, dass der Dialog mit den Mitarbeitenden bereits eine wichtige Intervention ist. Allein das Gespräch trägt zur Enttabuisierung, Wahrnehmung und Wertschätzung bei. Die tatsächliche Umsetzung der Maßnahmen macht dann häufig einen großen Unterschied für die Betroffenen.
Frage 5: Was wäre bei der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen für psychische Belastungen der größte Fehler, den ein Unternehmen machen kann?
Was sehr wichtig ist, ist das Ganze partizipativ zu gestalten. Aus meiner Sicht ist der größte Fehler, eine Auswertung in einem ausgewählten Kreis anzusehen und dann Maßnahmen top-down zu beschließen. Das hat immer den Charakter, dass etwas aufoktroyiert wird. Es macht einen erheblichen Unterschied, diese Lösungen zusammen mit den Mitarbeitenden zu entwickeln. Zum einen ist man viel näher am wirklichen Geschehen, denn die Mitarbeitenden erleben ihre Belastungen ja jeden Tag hautnah. Und zum anderen hat man natürlich auch im Nachgang eine ganz andere Akzeptanz, wenn die Vorschläge von den Mitarbeitenden auch in die Umsetzung kommen. Deswegen ist auch ein wesentlicher Punkt unserer Arbeit immer die Kollaboration mit den Mitarbeitenden.
Frage 6: Gibt es weitere Herausforderungen, wenn es um psychische Belastungen am Arbeitsplatz geht?
Leider ist es für Unternehmen oft immer noch schwierig, über das Thema Psyche zu sprechen. Hier können Kampagnen und Angebote helfen, das Thema aus der Tabu-Ecke zu holen. Foren, in denen offen über Belastungen gesprochen werden kann, ohne als schwach zu gelten, sind ein guter Ansatz. Mitarbeitende sorgen sich oft, dass sie schlechter dastehen könnten, wenn sie Überlastung eingestehen. Deshalb ist es wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem solche Gespräche konstruktiv geführt werden können.
Zum anderen gibt es bei Führungskräften oft Unsicherheiten und fehlendes Wissen im Umgang mit psychischen Belastungen. Wenn ein Mitarbeitender mentale Belastungen anspricht, wissen viele nicht, wie sie reagieren sollen. Das erschwert natürlich den Dialog. Diese Unsicherheit kann aber durch Schulungen abgebaut werden. Führungskräfte können lernen, psychische Belastungen zu erkennen, angemessen zu reagieren und ihre Rolle sowie Verantwortung klar zu definieren. Es geht in der Rolle der Führung in keiner Weise darum, psychologische Diagnosen stellen zu müssen, sondern darum, im Rahmen der Fürsorgepflicht kompetent mit solchen Situationen umzugehen und Folgeschritte zu erörtern.
Frage 7: Was ist denn, wenn die Belastungsfaktoren gar nicht aus der Arbeit stammen, sondern aus dem privaten Umfeld?
Ja, das erleben wir auch immer wieder. Dann begegnen uns häufig Unternehmen mit der Einstellung: „Was kann ich dafür, wenn im privaten Umfeld meiner Mitarbeitenden etwas passiert? Wenn es Eheprobleme gibt oder die Kindererziehung gerade schwierig ist?“ Es gibt ja unzählige Aspekte im Leben, die belastend sein können, aber nichts mit der Arbeit zu tun haben. Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen fokussiert sich vor allem auf das Arbeitsumfeld, was für Unternehmer manchmal unfair wirkt, weil sie diese anderen Belastungsfaktoren nicht beeinflussen können.
Wichtig ist, anzuerkennen, dass hier die Beeinflussbarkeit durch den Arbeitgeber tatsächlich endet. Aber trotzdem trägt der Arbeitgeber die Konsequenzen ja mit, denn die negative Auswirkung auf die Arbeitsleistung bleibt bestehen. Daher ist es für Unternehmer immer ratsam, präventive Angebote und Hilfestellungen für Mitarbeitende bereitzustellen, egal welche Ursache diese haben – denn am Ende profitieren beide Seiten.
Frage 8: Welche Maßnahmen im Rahmen des BGM haben sich als besonders effektiv erwiesen?
Bei der Diskussion über psychische Gesundheit sehe ich die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen als zentral an. Nach der Analyse der Online-Befragung ist es wichtig, konsequent dranzubleiben und zu dokumentieren: Welche Maßnahmen wurden umgesetzt? Was hat geholfen? Auch hier ist es entscheidend, im Dialog mit den Mitarbeitenden zu bleiben. Wir nutzen Vertiefungsworkshops, um nachträglich zu reflektieren, ob die Maßnahmen tatsächlich die Belastungen reduziert haben. Wenn das nicht der Fall ist, müssen Anpassungen vorgenommen werden, anstatt einfach abzuschließen.
Frage 9: Gibt es weitere hilfreiche Maßnahmen?
Eine weitere gute Maßnahme ist die betriebliche Sozialberatung. Angenommen, ein Mitarbeitender ist psychisch belastet und die Führungskraft schlägt vor, sich eigenständig auf dem freien Markt Unterstützung zu suchen. Da fühlen sich viele überfordert. Der Markt ist unübersichtlich, und wenn bereits Erschöpfung da ist, ist die Hürde groß, sich durchzukämpfen.
Ein neutraler Ansprechpartner, mit dem das Unternehmen kooperiert und der innerhalb weniger Tage ein Gespräch anbieten kann, macht hier einen großen Unterschied. Es muss nicht immer gleich eine Psychotherapie sein. Oft reicht jemand, der einen auffängt, eine fundierte Einschätzung von außen bietet und gemeinsam die nächsten Schritte erörtert. Ein solches niedrigschwelliges und leicht zugängliches Angebot ist sehr empfehlenswert. Sobald Mitarbeitende diese Unterstützung einmal erlebt haben, nutzen sie sie gerne wieder, weil es eine positive Erfahrung ist.
Frage 10: Jetzt haben wir viel über die Unternehmensseite gesprochen. Was können Mitarbeitende selbst für ihre Gesundheit am Arbeitsplatz tun?
Das ist eine komplexe Frage, weil Gesundheit von vielen Faktoren beeinflusst wird. Gleichzeitig ist das eine gute Nachricht, denn es bedeutet, dass jeder von uns auch Einfluss hat, etwas für sich zu tun. Es ist leicht gesagt, gut auf sich zu achten, aber es ist schon auch meine persönliche Aufgabe, das ernst zu nehmen. Das bedeutet, mir zu erlauben, Grenzen zu setzen.
Gesundheit ist nicht nur Unternehmensaufgabe, sondern auch meine eigene Verantwortung. Es hängt alles zusammen: Mentale Gesundheit ist verbunden mit ausreichender Bewegung, Erholung, Schlaf und Ernährung. Wenn ich merke, dass ich mental angeschlagen bin, kann ich zum Beispiel durch Bewegung meinen Akku wieder aufladen und Stress abbauen. Gleiches gilt für eine gute Versorgung mit Nährstoffen über die Ernährung.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist es, sich zu erlauben, über Gesundheit am Arbeitsplatz zu sprechen und aktiv Lösungen einzufordern. Es geht auch darum, eigenverantwortlich in den Dialog mit Führungskräften oder Mitarbeitendenvertretungen zu gehen und nicht zwangsläufig darauf zu warten, dass jemand auf mich zukommt.
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Wir danken Frau John vielmals für das Gespräch!