top of page

:Interview mit Susanne Krämer vom Projekt ABiK an der Universität Leipzig​​

von Madlen Anders, 12. Mai 2024
​​
​​

Für unser Leitthema des letzten Monats „Stressbewältigung und Achtsamkeit“ haben wir im April mit Susanne Krämer gesprochen. Susanne Krämer lehrt und konzipiert seit 2013 am Zentrum für Lehrer:innenbildung und Schulforschung der Universität Leipzig Seminare zu Achtsamkeit und Kommunikation und ist Leiterin des Projekts ABiK (Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/Schulkultur, @achtsamkeitinderbildung), das 2021 in Kooperation mit der AOK-PLUS gestartet ist. Wir haben mit Susanne Krämer über das Projekt ABiK gesprochen und darüber, warum Achtsamkeit in unserer Gesellschaft eine so wertvolle Methode sein kann.

 

 

1. Würden Sie uns kurz erklären, was das Projekt ABiK ist?

 

Das Projekt „Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/Schulkultur“ möchte Kurse anbieten für die vier Zielgruppen Hochschullehrende, Führungskräfte, Studierende und Lehrende an Schulen, um Achtsamkeit in den Bildungskontext zu bringen. Diese vier Zielgruppen sind erstmal der Startpunkt, weil das die Personen sind, die die Hochschul- und Schulkultur wirklich nachhaltig prägen.

 

 

2. In einem Satz: Was ist Achtsamkeit nochmal?

 

Achtsamkeit ist eine besondere Bewusstseinshaltung, die sowohl die körperliche als auch die emotionale und kognitive Wahrnehmung miteinschließt und uns mit der Qualität von Gelassenheit und Selbstfürsorge im gegenwärtigen Moment bleiben lässt.

 

 

3. Was sind die Herausforderung, die Sie vor allem bei Lehrenden und Studierenden und im Bereich der Bildung sehen – oder vielleicht auch generell in unserer Gesellschaft – bei denen uns Achtsamkeit helfen kann?

 

Also einerseits ist es das sehr allgegenwärtige Stressthema durch die Beschleunigung unserer Gesellschaft, durch unsere Systeme, die so extrem eng gebaut sind, dass einzelne für sich eine Stressreduktion suchen, welche insbesondere auch über die Emotionsregulation wirkt. Andererseits geht es uns aber auch darum, nachhaltige Entwicklung und die Bereitschaft für Transformation zu schaffen. In der Achtsamkeit nehmen wir eigene Gewohnheiten und Muster wahr und können auch gesellschaftliche Narrative wahrnehmen und dann bewusst verändern.

 

Das ist uns ein großes Anliegen, dass es eben nicht nur um die individuelle Entwicklung, sondern auch um die Entwicklung eines systemischen Denkens geht und darum, die Bereitschaft dafür zu entwickeln, diese Systeme zu verändern.

 

 

4. Also kann uns Achtsamkeit dabei helfen, uns in dieser sehr komplexen, vielleicht manchmal überfordernden Gegenwart mit all ihren Reizen und Aspekten zu besinnen?

 

Ja, und auch überhaupt einen Blick für diese Komplexität zu bekommen. Wir haben in unserer Gesellschaft kulturell geprägt ein sehr lineares Denken, was unser Bildungssystem ebenso aufrechterhält. Um aber jetzt bei Themen wie zum Beispiel Nachhaltigkeit wirklich in die Tiefe zu gehen, braucht es ein systemisches Denken, es braucht einen systemischen Ansatz, damit wir diese Komplexität überhaupt fassen können und uns selbst integriert in diesem System sehen. Zum Beispiel ist ein Umweltbewusstsein prinzipiell da, aber in den alltäglichen Entscheidungen ist uns der Zusammenhang unseres eigenen Handelns mit den Auswirkungen dann nicht mehr präsent, oder wir verdrängen ihn ganz bewusst.

 

Und deshalb braucht es diese erhöhte Fähigkeit, sich wirklich als Teil des Systems zu sehen und entsprechend zu handeln. Sehr schön ist, dass unsere Studie zum Projekt jetzt ergeben hat, dass durch die Programme sowohl die Selbstwirksamkeit gesteigert wird als auch das umweltbezogene Handeln. Also dass nicht nur die eigenen Intentionen und Werte klarer gesehen werden, sondern auch eine Bereitschaft zur Handlung entsteht.

 

 

5. Wie sind Ihre Kurse aufgebaut und welche konkreten Methoden finden darin Anwendung?

 

Wir beginnen mit den klassischen Achtsamkeitsübungen, die man auch aus dem MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) kennt – mit Sitzmeditation, Gehmeditation, Bewegungsmeditation – also alles Übungen, die Psyche und Körper wieder verbinden. Dazu kommen Elemente des MBCL-Programmes von Koster und van den Brink, in dem es mehr um Mitgefühl und Kooperation geht, also der prosoziale Aspekt betont wird.

 

Neben den Basiselementen haben wir eigene Aspekte ergänzt und die Aufbereitung für die Zielgruppen adäquat angepasst. Teile der Einheiten finden draußen statt, nicht nur in schöner Natur, sondern auch z.B. auf Parkplätzen, um wirklich mitzubekommen: Was macht Umgebung mit mir, wie wirkt sie auf mich ein, und was trage ich bei?

 

Darüber hinaus gehen wir dann in viele interpersonelle Übungen, also achtsame Dialoge, um Verbundenheit zu erfahren und sowohl im Zwischenmenschlichen als auch in Bezug auf die Umwelt einen systemischen Blick zu entwickeln. Es geht in diesem zweiten Schritt darum, die eigenen ethischen Werte und Intentionen wahrzunehmen, zu hinterfragen und wenn sie für einen stimmig sind, in den Alltag zu integrieren. Im dritten Schritt wird noch einmal konkret die Beziehungskompetenz und die Integration einer achtsamen Haltung in den Berufsalltag fokussiert.

 

Im Pilotprojekt an den Schulen schließt sich deshalb auch eine Zukunftswerkstatt an, um Veränderungen, wie die Umstrukturierung von Gremien, Kommunikationswegen, eine Kultur der wertschätzenden Kommunikation und andere Themen der Kollegien unmittelbar in die Umsetzung zu bringen. Nach dem Basiskurs bieten wir einen Aufbaukurs an. Uns ist es wichtig, dass man, bevor man daran geht, Achtsamkeit weiterzuvermitteln, also als Lehrperson an die Schüler:innen, als Hochschullehrender an die Studierenden, wirklich eine eigene Erfahrung als Basis hat und natürlich auch theoretische Hintergründe, um dann in die Weitervermittlung zu gehen.

 

Es geht dabei immer auch um die eigene Verkörperung. Wenn wir sozioemotionale Tools weitergeben, dann braucht es auch ein Verkörpern, weil Lernprozesse in dem Bereich sehr viel über das Vorbildverhalten von role models stattfinden. Deshalb teilen wir unsere Kurse in zwei Formate auf, ein Basisformat, das Mindful Teachers oder Mindful Students Program (MTP/MSP) und dann das darauf aufbauende Teaching Mindfulness Programm (TMP).

 

 

6. Ihr Projekt ist mit der Annahme gestartet, dass Achtsamkeitsübungen das individuelle Wohlbefinden steigern und das prosoziale und proökologische Verhalten verstärken. Hat sich das in der Evaluation bestätigt?

 

Wir haben in der Evaluation sehr klare, signifikante Ergebnisse beim Stress und beim proökologischen Verhalten. Beim prosozialen Verhalten sind unsere Teilnehmer genauso prosozial geblieben, wie sie am Anfang waren, und ich muss sagen: Zum Glück. Unsere Interventionsgruppe war von Anfang an extrem prosozialer als die Kontrollgruppen, und eine weitere Steigerung würde sich dann in Richtung eines Sich-Verausgabens oder Sich-Verbrennens entwickeln.

 

Und was die Studie für uns ergeben hat, ist, dass Achtsamkeit uns eben nicht, was oft als Vorwurf kommt, egozentrischer werden lässt und uns nur noch um uns und unsere Bedürfnisse kreisen lässt, sondern es hat sich ganz klar gezeigt, dass diese Menschen, die schon sehr prosozial waren, auch prosozial geblieben sind, sich aber über die zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus den größeren Zusammenhängen des pro-ökologischen Verhaltens geöffnet haben. Wenn wir Gruppen haben, die noch nicht auf diesem Level sind, können wir in anderen Studien sehen, dass sich die Empathie erhöht, dass das Mitgefühl verstärkt wird, dass Kooperationsfähigkeit ganz anders möglich ist, aber auch Beziehungskompetenz. Gerade wenn wir jetzt an den Bedarf von Schülerinnen und Schüler denken, ist das natürlich sehr spannend, diese Bereiche weiterzuentwickeln.

 

 

7. Haben Sie konkrete Tipps, wie man mehr Achtsamkeit in seinen Alltag integrieren kann?

 

Was immer achtsamkeitsverstärkend ist, ist in unseren Alltagstätigkeiten in eine wirkliche Präsenz zu kommen, in eine ganzheitliche Wahrnehmung, kognitiv, körperlich, sinnlich und emotional. Das kann auch beim Nachhause gehen sein – wahrzunehmen, wo bin ich eigentlich in Gedanken, bin ich präsent in dem, was ich tue, oder eile ich permanent in ganz andere Themenfelder?

 

Kurse und das Praktizieren mit anderen Menschen können immer unglaublich hilfreich sein. Viele haben sich vielleicht schonmal der Thematik zugewandt, aber sie wünschen sich eigentlich etwas Systematisches, einen regelmäßigen Anhaltspunkt. Den kann man sich, wenn man sehr diszipliniert ist, auch selbst schaffen. Es gibt auch sehr schöne Literatur, oft versehen mit Links zu Audios, mit denen man sehr wohl für sich auch eine Praxis aufbauen kann. Aber genau diese interpersonellen Formate, wo wir achtsame Dialoge führen, uns dadurch selbst erforschen, anderen Menschen auf einer tieferen Ebene begegnen – das ist natürlich etwas, was wirklich nur in irgendeiner Form des Gruppensettings möglich ist. Es wird dadurch eine Regelmäßigkeit geschaffen, die eine große Unterstützung ist, um selbst in eine eigene Praxis zu kommen. Das ist auch eines der Ziele des Kurses, hier auch eine neue Gewohnheit zu setzen.

 

Dieses Gefühl von „Ich habe diese zehn Minuten am Tag nicht“ – das ist ja eine Wahl, die wir treffen können, und durch strukturelle Begleitung ist es natürlich einfacher, Achtsamkeit im Alltag zu integrieren.

 

Und Achtsamkeitsübungen sind ja eigentlich nur dafür da, dass wir dann im Alltag mit all unseren Themen, die uns begegnen, anders umgehen können. Dass wir uns nicht so sehr in Emotionalitäten reinschrauben, dass wir nicht in Gedankenstrudeln hängenbleiben, dass wir sehr viel klarer ausgerichtet sind, werteorientierter handeln. Das ist eigentlich das Ziel und die Achtsamkeitsübungen sind ein Uns-wieder-an-diese-Qualität-Erinnern. Wie man auch Muskeln trainiert, ist es gut, sich diesen regelmäßig zuzuwenden, und dazu sind Kurse hilfreich.

 

 

8. Was ist Ihnen in Bezug auf Ihre Arbeit sonst noch wichtig?

 

Was uns wichtig ist, ist dass es bei unseren Achtsamkeitskursen natürlich nicht darum geht, Individuen fit zu machen, den Stress der Gesellschaft auszuhalten, sondern diese Klarheit und auch die Energie zu bekommen, sie hilfreich zu verändern. Und auch Leistung kann dabei ein Wert sein. Das ist ein häufiges Missverständnis, dass man denkt, Achtsamkeit wäre eine nicht leistungsfähige Haltung. Im Gegenteil! Durch eine erhöhte Klarheit bekomme ich gerade auch Interesse an Leistung, an Forschung, an tieferem Hinschauen und Entwicklung, und auch Kreativität kann dadurch gefördert werden. Aber unsere Vorstellung von Arbeit ist häufig, dass wir gestresst sind, dass wir darin angestrengt sind. Aber dass wir Arbeit und Bildung eigentlich viel effektiver durchführen können, wenn sie eben nicht gestresst stattfindet, sondern mit einer Offenheit und einer Neugier und einem Wissen-Wollen, das ist eigentlich das, wozu wir eine Basis bereiten wollen. Und das führt glaube ich zu einem ganz großen Switch in der Herangehensweise.

 

In den Seminaren erlebe ich oft, dass die Studenten denken, sie müssen ganz viel Zeit zum Entspannen haben, weil Arbeit und Studium so anstrengend sind. Und ich denke: Nein – arbeiten ist etwas unglaublich Sinnhaftes. Und dass diese Sinnhaftigkeit so verloren geht und man deshalb das Gefühl hat, man muss sich dauernd davon erholen ist absurd. Gerade im Bildungsbereich ist es fatal, wenn Menschen das Gefühl einer fehlenden Sinnhaftigkeit haben, weil es doch nichts Sinnhafteres gibt, als Menschen auf Ihrem Lebensweg zu begleiten. Und diese pädagogische Haltung bringen die meisten Lehrpersonen auch mit, aber durch Druck und Stress wird diese oft überlagert.

 

Und hier liegt die Chance der Achtsamkeit darin, wieder Energie zu geben, auch um die entscheidenden Stellen zu finden, wo man sagt „Hier kann ich etwas verändern“ und andere, wo man sagt, „Hier mache ich das Beste draus mit dem, was da ist und ich es jetzt nicht verändern kann“.

 

Wir brauchen eine gesellschaftliche Veränderung hin zu Kooperation und Nachhaltigkeit, Achtsamkeit kann einen Beitrag bieten.

* * *
​​
​​

Wir danken Frau Krämer vielmals für das Gespräch!

 

Die Ergebnisse der ersten Projektphase lassen sich nachlesen bei Blanke, Elisabeth S., Susanne Krämer, Laura S. Loy, Christian Liebmann, Steffen Nestler, and Ute Kunzmann. 2024. “Beyond Individual Stress Reduction - the Mindful Students Program Benefits University Students and Their Environment.” OSF Preprints. March 5. doi:10.31219/osf.io/f4ahq.

 

Mehr zum Projekt ABiK: www.zls.uni-leipzig.de/forschung-und-projekte/abik (zuletzt aufgerufen 23.04.2024).

bottom of page